Das Projekt (Laufzeit 2009-2015) diente der Edition und der Erforschung der sogenannten Stapfer-Enquête, einer Umfrage zur Schulsituaion in der Helvetischen Republik aus dem Jahr 1799. Diese Umfrage geht auf die Initiative des Erziehungsministers[1] der Helvetischen Republik (1798-1803) Philipp Albert Stapfer (1766-1840) zurück, der die Schulpolitik der 1798 ausgerufenen Republik auf "hard facts" bauen wollte und deswegen einen standardisierten Fragebogen mit rund 60 Fragen entwarf, die von den Lehrern (und wenigen Lehrerinnen) der damaligen Schweiz ausgefüllt wurde.
Die Erhebung besteht aus vier Teilen; gefragt wird nach den Lokalverhältnissen, dem Unterricht, den Personalverhältnissen und den ökonomischen Verhältnissen (siehe Transkription des Fragebogens bzw. Druckversion auf Deutsch oder Französisch). Von dieser Umfrage liegen über 2400 Antwortbögen und somit umfangreiche, ergiebige und spannende Quellen vor.
Stapfers Schul-Enquête war nicht die einzige Umfrage, welche die 1798 eingesetzte Helvetische Revolutionsregierung initiierte. Insgesamt lassen sich schon für das erste Jahr der Republik rund 15 Umfragen (!) identifizieren, mit dem Ziel, sich systematisch Wissen über den Zustand der Helvetischen Republik anzueignen. Mit sechs Umfragen nahm Philipp Albert Stapfer dabei eine prominente Rolle ein: Im November 1798 wurde eine Umfrage bei den Buchhändlern lanciert, die in Erfahrung bringen wollte, welche inhaltlichen Vorlieben die Buchhändler hatten, welche Infrastrukturen vorhanden waren, welche Absatzmärkte existierten und wie der Büchervertriebe organisiert war. Im gleichen Monat beabsichtigte Stapfer, mittels einer weiteren Umfrage mehr Wissen über die Klöster sammeln.
Im Januar 1799 begann Stapfer, der auch Initiator des Bureaus für Nationalkultur war, mit einer weiteren Umfrage Informationen bei den Künstlern mit der Intention zu sammeln, ein Inventar der künstlerisch und wissenschaftlich wertvollen Gegenstände in den Nationalgebäuden zu erstellen und deren zentrale Sammlung in einem geplanten Konservatorium in Luzern zu organisieren. Im Februar folgte die hier diskutierte Schul-Umfrage bei den Lehrkräften, dann einen Monat später eine Umfrage bei den Pfarrern, die zusammen mit der Klosterenquête von 1798 ein Bild über die geistige Welt des Klerus in der Schweiz vermitteln soll, und im April 1799 eine Umfrage mit dem Ziel, ein Taubstummeninstitut zu gründen. In Paris hatte er die vom Abbé Charles-Michel de l’Epée (1712-1789) 1771 gegründete und weitum bekannte Institution Nationale des Sourds-Muets de Paris kennengelernt, und war offenbar gewillt, sie in der Schweiz nachzuahmen.
Stapfer orientierte sich stark an Kant. Er hatte ihn lebenslang als seinen Leitphilosophen angesehen. Es ging ihm, wie der Titel seiner kurz vor der Helvetik verfassten Schrift sagt, um "De natura, conditore et incrementis reipublicae ethicae" – was eine direkt Übernahme von Kants "ethischem Gemeinwesen" ist – d.h. sein Ziel war die Schaffung einer „ethischen Republik“. Er sah die Schweiz als eine „Helvetia mediatrix“ zwischen Deutschland und Frankreich. Denn er orientierte sich in seinen Erziehungskonzepten und in konkreten Reformplänen auch an französischen Vorbildern wie Condorcet und verband so deutsche und französische Aufklärung theoretisch und in einem praktischen Reformprogramm. Der gesamte Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war zu großen Teilen eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte (Osterwalder 1992). Diese aufklärungsorientierte Neigung wurde aber nicht alleine von Stapfer getragen, sondern charakterisierte die gesamte neue Regierung. Alleine blieb Stapfer allerdings mit seiner konstant christlichen Orientierung, die in der Frage nach der Rolle der Geistlichkeit und der Kirche im neuen Staat eine Minderheitenposition blieb. Gemeinsam war allen führenden „Helvetikern“ allerdings, dass sie auf aktuelles Wissen angewiesen waren, um ihre zentralstaatliche Politik datengestützt gestalten zu können. Einer der damit verbundenen Zauberbegriffe, die im späten 18. Jahrhundert kursierten, war jener der „politischen Arithmetik“ (Young 1777) bzw. „sozialen Mathematik“ (Condorcet 1793), die sich der Frage der effizienten Planung von Forstschritt und Perfektibilität widmeten, in welcher, bis in die Planungsphantasien des Kalten Krieges, Bildung eine zentrale Rolle spielte.
So weit sollte es allerdings, um 1800, nicht kommen; die Helvetik wurde 1803 durch Napoleon aufgelöst und eine zentrale schweizerische Bildungspolitik gibt es seit jener Zeit nicht mehr. Insofern dient die Quelle vor allem als eine ungemein reichhaltige „Momentaufnahme“ (Schmidt 2009) der Schweizer Schulverhältnisse jener Zeit, die ihresgleichen sucht. Zwar gab es auf regionaler Ebene schon zuvor umfassende Schul-Umfragen, wie etwa jene von 1771/72 im Kanton Zürich (Tröhler/Schwab 2007), aber die Antworten wurden damals von den Pfarrern, und nicht wie 1799 von den Lehren verfasst. Die edierten und kommentierten Quellen zeigen, dass viele Aspekte, von denen man traditionellerweise dachte, sie seien historisch gesichert, revidiert werden müssen: Die Geschichtsschreibung bedarf der Revision.
Im Zentrum des Projekts stand die Edition des gesamten Quellenbestandes der Schul-Enquête von 1799. Die Datengewinnung, -sicherung und -präsentation bestand aus der Transkription der handschriftlichen Antworten der einzelnen Schulen bzw. Lehrer von rund 2500 Schulen, ihrer Kontrolle und der Implementierung in eine Online-Datenbank sowie ihrer Präsentation auf einer Website.
Insgesamt 7 Doktorierende (siehe Beteiligte) haben - parallel zum Projekt - Dissertationen verfasst. In diesen Arbeiten wurden auf der Basis der Umfrage von Stapfer zentrale Aspekte des Schulwesens erforscht. Betreut und geleitet wurde das Projekt von den vier Professoren Heinrich Richard Schmidt (Historisches Institut, Universität Bern) als Editionsleiter, Fritz Osterwalder (Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Bern), Alfred Messerli (Institut für Populäre Kulturen, Universität Zürich) und Daniel Tröhler (Faculté des Lettres, des Sciences humaines, des Arts et des Sciences de l’Éducation, Universität Luxemburg).
Grosser Dank gebührt dem Schweizerischen Nationalfonds, der diese insgesamt sechs Jahre Forschungs- und Editionsarbeit grosszügig unterstützte und damit geholfen hatte, die Quelle öffentlich zugänglich zu machen und zu erforschen.
Daniel Tröhler, Heinrich R. Schmidt
Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de (1793). Tableau général. De la Science, qui a pour objet l’application du calcul aux sciences politiques & morales. In: Journal d’instruction sociale par les citoyens Condorcet, Sieyès et Duhamel. Paris, L’imprimerie des Sourds-Muets, S. 105-128.
Osterwalder, Fritz (1992). Condorcet – Instruction publique und das Design der Pädagogik als öffentlich-rechtliche Wissenschaft. In: Oelkers, J. (Hrsg.): Aufklärung, Bildung und Öffentlichkeit (28. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik). Weinheim: Beltz, S. 157-194.
Schmidt, Heinrich Richard (2009). Die Stapfer-Enquête als Momentaufnahme der Schweizer Niederen Schulen vor 1800. Zeitschrift für pädagogische Historiographie 14, S. 98-112.
Tröhler, Daniel / Schwab, Andrea (Hrsg.) (2007). Volksschule im 18. Jahrhundert. Die Schulumfrage auf der Zürcher Landschaft 1771/72: Quellen und Studien. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (1. Auflage 2006).
Young, Arthur (1777). Arthur Young's Politische Arithmetik: enthaltend Bemerkungen über den gegenwärtigen Zustand Großbritanniens, und über die Grundsätze der Verwaltung dieses Staates in Absicht auf die Beförderung des Ackerbaues; an die ökonomischen Gesellschaften in Europa gerichtet. Königsberg: Kanter.
[1] Genau genommen war Philipp Albert Stapfer Minister für Wissenschaften, Künste, Gebäude und Strassen.