Forschungen zur Helvetischen Republik

 

Historiographie des 19. Jahrhunderts

Die Historiographie zur Helvetik im 19. Jahrhundert ist unter dem Prozess der Verwissenschaftli­chung und Professionalisierung der Geschichtswissenschaften zu betrachten.[1] Die ersten Werke, die sich mit der Helvetik befassten, sind von dieser Entwicklung noch weit entfernt. Sie wurden ausschliesslich von politisch aktiven Persönlichkeiten verfasst, welche die Helvetik mitbestimmt oder zumindest miterlebt hatten.[2] Politische Legitimation war diesen Autoren wichtiger als eine objektive Darstellung der Ereignisse. Hervorzuheben sind vor allem die Werke von Peter Ochs[3] und Heinrich Zschokke[4]. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte sich die zunehmende Akademisierung der Ge­schichtswissenschaft auch in den Werken zur Helvetik bemerkbar. Charles Monnard[5], Johann An­ton von Tillier[6] und Johann Jacob Hottinger[7] nutzten für ihre Arbeiten archivalische Quellen und stellten den Anspruch, mit Hilfe dieser Dokumente die historische Wahrheit zu finden.[8] Das hier entstandene Bild der Helvetik ist vor allem von der selbst miterlebten Schmach, die der Einmarsch der Franzosen bedeutete, geprägt. Häufig anzutreffende Motive sind die Zerrissenheit, die Eifer­sucht und die Zwietracht, die innerhalb der Eidgenossenschaft entstanden war.[9]

 

Nach der Gründung des Bundesstaates 1848 institutionalisierte sich die historische Forschung zusehends. Die Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist geprägt von grossen nationalgeschichtlichen Projekten, die unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Regeln neue Massstäbe setzten.[10] Als Beispiele können hier die Werke von Johannes Strickler[11], Karl Dändli­ker[12], Carl Hilty[13] und Willhelm Oechsli[14] genannt werden. Das Bild der Helvetik veränderte sich stark. Die Besetzung durch die Franzosen wurde zwar weiterhin kritisch beurteilt. Wichtiger ist aber die Hervorhebung der positiven Errungenschaften gegenüber dem Ancien Regime. Diese Historiker sehen sich selbst in der Tradition der Helvetischen Revolution und können als fortschrittlich und zentralistisch bezeichnet werden.[15]

 

Historiographie des 20. Jahrhunderts

 

Konservative Meistererzählung[16]

Die konservative Meistererzählung wird vom Bild des verhängnisvollen Untergangs geprägt.[17] Die zentralistische Verfassung wird als aufgezwungenes Übel der französischen Fremdherrschaft betrachtet. Die Verhältnisse vor dem Einmarsch werden in neuer, beinahe verklärter Weise aufgewertet, alles was mit der französischen Revolution in Zusammenhang steht, verurteilt.[18]

 

Exemplarisch kann hier auf Richard Feller[19] und Adolf Gasser[20] verwiesen werden. Feller hat vor allem mit seinem Begriff des „Franzoseneinfalls“[21] Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs um die Helvetik gefunden. Adolf Gasser bezeichnete die Phase der Helvetischen Republik schlicht als Irrweg. Für die aktuelle Forschung spielt diese konservative Deutung der Helvetischen Republik allerdings eine weniger wichtige Rolle.[22]

 

Liberale und linksbürgerliche Meistererzählung[23]

In einem positiven Licht stehen vor allem die Neuerungen der Helvetik, die den Anfang einer modernen Schweiz bildeten. Diese wirkten in die Zukunft nach und führten schliesslich zur Gründung des Nationalstaates von 1848. Somit wird bei dieser Interpretation aber ebenfalls ein Bruch in der Schweizer Geschichte betont. Diese ‚Meilensteine’ der Helvetischen Republik sehen die Historiker dieser politischen Richtung in ihrer Verfassungsstaatlichkeit, der nationalen Grundlage der Verhältnisse, der Aufhebung aller Untertänigkeit, der Grundlage für eine moderne demokratische Verfassung mit Volkssouveränität, Menschen- und Bürgerrechte und der Gewaltentrennung. Dem Gegenüber steht ein ‚verkrustetes’ und eingerostetes Ancien Régime. Dieses Ancien Régime zeichnet sich durch Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, einer oligarchischen Regierung und dem mittelalterlichen Ballast an korporativ-bündischen Institutionen aus.[24]

 

Carl Hilty, der als einer der ersten Vertreter dieser Richtung genannt werden kann, zieht schon Ende der 1870er Jahre eine direkte Verbindung von der Helvetik zu der ersten und zweiten Bundesverfassung von 1848 und 1874.[25] Er betrachtete folglich die Helvetische Republik als erste Demokratie auf eidgenössischem Boden. In diese Richtung argumentierten auch die beiden nicht an einer Universität forschenden Herausgeber der Aktensammlung zur Helvetik Johannes Strickler und Alfred Rufer. Sie begeisterten sich für die Ideen von 1789 und sahen diese als wichtig für die Entwicklung zur direkten, radikalen Demokratie.[26] Der sozialistische Forscher Robert Grimm sieht die Helvetik als instabiles Regime, weil sie geistig unselbständig gewesen und im Vergleich zur französischen Repbulik zu spät gekommen sei.[27]

 

Internationale Forschung

International wurde allgemein sehr wenig zur Helvetik geforscht. Als wichtiges und umfangrei­ches Werk gilt Holger Bönings "Traum von Freiheit und Gleicheit". Zur Gesamteinschätzung der Helvetik geht Böning von der Frage aus, was zum Scheitern der Helvetischen Republik beigetra­gen hat. Die Französische Grossmachtpolitik sieht er dabei einerseits als Bedingung für das Zustandekommen der Republik und andererseits als Hemmnis für ihren tatsächlichen Erfolg. Als Hauptgrund für das Scheitern fügt er die enttäuschten Erwartungen der Bevölkerung an die Revolution an. In der Führungselite, welche vom Ancien Régime bis in die Helvetik ungefähr identisch blieb, sieht er gewisse Kontinuitäten. Die grossen Bemühungen auf dem Gebiet der Volksbildung gingen zwar ebenfalls von einer Elite aus, seien aber noch nie mit solcher Anstrengung betrieben worden. So sind für Böning die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten des Volkes der Hauptirrtum der Helvetischen Republik. Nichtsdestotrotz geht er davon aus, dass die Helvetik die Anfänge einer modernen und demokratischen Schweiz darstellte. Weiter sei sie ein epocha­les Datum für Volksrechte und bundesstaatliche Organisation gewesen – Felder auf denen sie sel­ber scheiterte. Einen Bruch in der Schweizer Geschichte stellt die Helvetische Republik für ihn nicht dar.[28] Im Ganzen erscheinen die „Überbleibsel“ und Kontinuitäten der Helvetik für Böning als durchaus positiv, obwohl es an Mitbestimmungsrechten für das Volk mangelte.

 

Ein weiterer internationaler Beitrag zur Forschung liefert Marc H. Lerner. Ihm geht es in erster Linie um die Adaption des Freiheitsbegriffs der Französischen Revolution im restlichen Europa. Dazu wählt er die Schweiz zur Zeit der Helvetik. Sie dient ihm aufgrund der sehr unterschiedli­chen Interpretationen des Freiheitsbegriffs auf kleinstem Raum als besonders spannendes Beispiel. Lerners These lautet denn auch, dass sich in den Wirren der Helvetik die unterschiedlichen Ausle­gungen des Freiheitsbegriffs sowie die ambivalente Haltung gegenüber der französischen Revolution widerspiegelten. Dies belegt er vor allem anhand zweier unterschiedlicher Beispiele: der Waadt und der Innerschweiz. So kommt Lerner zum Schluss, dass das Experiment der Helvetik scheitern musste, weil die Uneinheitlichkeit zwischen den eidgenössischen Orten zu gross war. Das vielschichtige Nebeneinander von Freiheits- und Demokratiebegriffen verunmöglichte das Experiment Helvetik. Lerner betont sowohl die Brüche der Helvetik wie auch die Kontinuitäten, obwohl zu bedenken ist, dass er stark von der Rezeption des Freiheitsbegriffs ausgeht und einen europäischen Blick auf die Schweiz hat.[29]

 

Neuere Forschungsrichtungen

Als neuere Forschungsansätze lassen sich zum Beispiel regionalgeschichtliche Blickwinkel[30] oder Ansätze einer „Geschichte von unten“[31] nennen, auch Ansätze der poststrukturalistischen "Neuen Kulturgeschichte" (New Culutral History), die sich zum Beispiel für die Geschlechterperspektive zur Zeit der Helvetik interessieren.[32] Christian Simon plädiert dafür, dass die unterschiedlichen politischen Interpretationen der Helvetik von der Forschung aufgenommen werden sollen. Sie liefern für ihn neue Aspekte und Blicke auf die Zeit von 1798-1803, welche, wenn sie kritisch betrachtet würden, spannende neue Erkenntnisse für die Geschichtswissenschaft liefern könnten.[33] Einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Forschung leistet André Holenstein, wenn er dafür plädiert, die Helvtische Republik als „reformabsolutistische Republik“ zu betrachten. Dabei kritisiert er vor allem die links-liberale Meistererzählung, welche zu sehr die erreichte Volkssouveränität und den Bruch mit dem Ancien Régime betont habe, und weist auf die Vorbildfunktion von aufgeklärt-absolutistischen Mustern hin (etwa den Josephinismus), die in der zentralistischen Republik aufgegriffen worden seien.[34]  

 

 

Dominik Matter und Oliver Roth

 

 


[1] Simon, Christian, Die Helvetik in der nationalen Historiographie, in: Ders. (Hg.), Blicke auf die Helvetik (Dossier Helvetik, Bde. 5/6). Basel 2000, 239-263, hier: 240f.

[2] Luminati, Michele, Die Helvetische Republik im Urteil der schweizerischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 5, 1983, 163-175, hier: 164.

[3] Ochs, Peter, Geschichte der Stadt und Landschaft Basel. Bd. 8. Basel 1822.

[4] Zschokke, Heinrich, Geschichte vom Kampf und Untergang der schweizerischen Berg- und Waldkantone. Bern 1801; Ders, Des Schweizerlands Geschichten für das Schweizvolk. Aarau 1822.

[5] Monnard, Charles, Histoire de la Confédération Suisse, 5 Bde. Paris/Genf 1842-1851, in deutscher Übersetzung: Geschichte der Eidgenossen während des 18. und der ersten Decennien des 19. Jahrhunderts. Zürich 1847-1853.

[6] Tillier, Johann Anton von, Geschichte der helvetischen Republik. Bern 1843.

[7] Hottinger, Johann Jacob, Vorlesungen über die Geschichte des Untergangs der schweizerischen Eidgenossenschaft der Dreizehn Orte. Zürich 1844.

[8] Simon, Helvetik (wie Anm. 1), 241.

[9] Feller, Richard / Bonjour, Edgar, Geschichtsschreibung der Schweiz. Vom Spätmittelalter zur Neuzeit, Bd. 2, Zweite durchgesehene und erweiterte Auflage. Basel 1979, 584-586 und Luminati, Geschichtsschreibung (wie Anm. 2), 165.

[10] Simon, Helvetik (wie Anm. 1), 243 und Luminati, Geschichtsschreibung (wie Anm. 2), 165.

[11] Strickler, Johannes, Actensammlung aus der Zeit der helvetischen Republik. Freiburg 1886-1966 [=ASHR].

[12] Dändliker, Karl, Geschichte der Schweiz, 3 Bde. Zürich 1884-1904.

[13] Hilty, Carl, Öffentliche Vorlesungen über die Helvetik. Bern 1878.

[14] Oechsli, Willhelm, Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 2 Bde. Leipzig 1903.

[15] Feller / Bonjour, Geschichtsschreibung (wie Anm. 9), 733-735 und Luminati, Geschichtsschreibung (wie Anm. 2), 166.

[16] Begriff zitiert nach Holenstein, André, Die Helvetik als reformabsolutistische Republik, in: Schläppi, Daniel (Hg.), Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798. Basel 2009, 83-104, hier: 83.

[17] Holenstein, Helvetik (wie Anm. 16), 83.

[18] Luminatti, Geschichtsschreibung (wie Anm. 2), 166.

[19] Feller, Richard, Geschichte Berns, Bd. 4. Bern 1960.

[20] Gasser, Adolf, Der Irrweg der Helvetik, in: Zeitschrift für Schweizerische Rechtsgeschichte 26, 1947, 425-455.

[21] Der Begriff fand ebenfalls Eingang ins Historische Lexikon der Schweiz. Vgl. Illi, Martin, Artikel „Franzoseneinfall“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8915.php, Version vom 17.12.2009.

[22] Holenstein, Helvetik (wie Anm. 16), 84.

[23] Begriff zitiert nach Holenstein, Helvetik (wie Anm. 16), 83.

[24] Holenstein, Helvetik (wie Anm. 16); Zur links-liberalen Forschung: Hilty, Vorlesung (wie Anm. 13); Jenny, Kurt, Die Helvetik. Meilenstein auf dem Weg vom Ancien Régime zum modernen Bundesstaat, in: Simon, Christian (Hg.): Blicke auf die Helvetik (Dossier Helvetik Vol. 5/6).  Basel 2000, 95-125; Kölz, Alfred, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848. Bern 1992; Rufer, Alfred, Artikel „Helvetische Republik, in: Historisch-Biografisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4. Neuenburg 1927, 142-187; Ders.: "Eine klerikal-faschistische Philosophie der Schweizergeschichte", in: Politische Rundschau 8, 1929, 608-610; Böning, Holger, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik. Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie. Zürich 1998.

[25] Jenny, Helvetik (wie Anm. 24), 120.

[26] Simon, Helvetik (wie Anm. 1), 258.

[27] Grimm, Robert, Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen. Bern 1920.

[28] Böning, Traum (wie Anm. 24), 295-303.

[29] Lerner, Marc, H., The Helvetik Republic. An Ambivalent Reception of French Revolutionary Liberty, in: French History 18, 1, 2004, 50-75.

[30] Exemplarisch: Manz, Matthias, Die Balser Landschaft in der Helvetik (1798-1803). Über die materiellen Ursachen von Revolution und Konterrevolution. Liestal 1991.

[31] Würgler, Andreas, Wer hat Angst vor wem? Kulturelle, soziale und nationale Muster in den Beziehungen zwischen Stadtbevölkerung und Besatzungsarmeen (Schweiz und Deutsch­land 1792-1815), in: Nubola, Cecilia / Würgler, Andreas et al. (Hgg.), Mit dem Feind tan­zen? Reaktionen auf die französische Expansion in Europa zwischen Enthusiasmus und Protest (1792-1815) / Ballare col Nemico? Reazioni all’espansione francese in Europa tra entusiasmo e resistenza (1792-1815), in: Jahrbuch des italienischendeutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge, 24, 2010, 141-164; Ders., Bern von französischen Truppen besetzt, in: Holenstein, André u.a. (Hgg.), Berns gol­dene Zeit. Das 18. Jahrhundert neu entdeckt. Bern 2008, 529; Böning, Holger, Revolution in der Schweiz. Das Ende der alten Eidgenossenschaft. Die Helvetische Republik 1798-1803. Frankfurt am Main/Bern/New York 1985.

[32] Schnegg, Brigitte / Simon, Christian, Frauen in der Helvetik. Die Helvetik in frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Überlegungen zu einem brachliegenden Forschungsgebiet, in: Simon, Christian (Hg.): Blicke auf die Helvetik (Dossier Helvetik 2). Basel 1997, 131-149.

[33] Simon, Helvetik (wie Anm. 1), 262-263.

[34] Holenstein, Helvetik (wie Anm. 16), v.a. 83-85, 101-104.