Schulpolitik der Helvetischen Republik

 

Stapfers Gesetzesentwurf für die niederen Schulen

Philipp Albert Stapfer präsentiert am 25. Oktober 1798 dem Direktorium seinen Gesetzesentwurf zur Reform der Volksschulen. Das Dokument mit dem Titel „Projet de loi sur les écoles élémentaires“[1] ist in vier thematische Blöcke gegliedert. Der erste Teil widmet sich der Notwendigkeit einer guten Bildungspolitik für Staat und Gesellschaft und kann grundsätzlich als Stapfers Motivation für die Bildungsreform betrachtet werden. Im zweiten Teil regelt Stapfer einerseits die Funktion und Aufgaben der Erziehungsräte. Ausserdem will er den finanziellen Stand und den sozialen Status der Lehrer heben. Konkret fordert Stapfer einen Mindestlohn von 800 Franken sowie Pensionierungsgelder für die Lehrer. Zudem gedenkt er, die Verantwortung für die Lehrer der Munizipalität zu entziehen und sie den neu gebildeten kantonalen Erziehungsräten zuzuordnen.[2] Teil drei des Gesetzesentwurfs regelt die konkreten Gegenstände und Methoden des Unterrichts. Stapfer stellte sich ein System aus drei Klassen vor, die nacheinander durchlaufen werden sollten. Der erfolgreiche Abschluss der dritten Stufe sollte die Bedingung für eine Partizipation am politischen Alltag für jeden Bürger werden.[3] Neben den bisher gängigen Unterrichtsfächern wie Lesen, Schreiben und Rechnen sollten die Kinder auch in Französisch, Zeichnen und Gesang unterrichtet werden. Zudem sah Stapfer vor, eine christlich geprägte Moral- und Sittenlehre in den Schulunterricht einzubauen.[4] Um die Kinder auf den Alltag als Bürger und Bürgerinnen vorzubereiten, beabsichtigte Stapfer, sie in der Verfassungslehre, dem Ackerbau, der Mechanik und „geschlechterspezifischen Fächern“ wie Hauswirtschaft oder militärischen Übungen unterweisen zu lassen.[5] Der vierte Teil des Gesetzesentwurfs befasst sich neben den finanziellen Aspekten zur Umsetzung der Reform mit den Kontrollfunktionen des neuen Schulwesens. So sollte beispielsweise ein vom Erziehungsrat ernannter Schulinspektor die Schulen halbjährlich besuchen, dem Erziehungsrat Bericht erstatten und zudem das ganze Jahr hindurch in engem Kontakt mit dem Lehrer stehen.

 

Das Scheitern der stapferschen Pläne auf Gesetzesebene

Die konkrete Schulpolitik begann bereits mit der Direktorialverordnung vom 24. Juli 1798, welche als Provisorium die Schule von der Kirche trennte, sowie in den Kantonen und Bezirken Erziehungsräte und Inspektoren einsetzte und somit erstmals die grundlegende Organisation der Schule als Institution festlegte.[6] Der oben dargestellte Gesetzesentwurf von Stapfer wurde von Peter Ochs relativ stark abgeändert und zusammen mit der entsprechenden Botschaft vom 18. November am 30. November 1798 zum ersten Mal im Grossen Rat verlesen. Die abschliessenden Diskussionen des Grossen Rates fanden dann am 8. und 9. Juli 1799 statt, worauf am 19. November ein Entwurf an den Senat überwiesen wurde, in welchem sich, wie in der Version der Kommission, die Pfarrer und Munizipalitäten die Aufsicht teilten und die Erziehungsräte nur noch nebenbei erwähnt wurden. Der Senat verwarf das Gesetz schliesslich am 2. Januar 1800. Schulpolitik wurde fortan fast ausschliesslich auf kantonaler Ebene von den verbliebenen Erziehungsräten betrieben.[7]

 

Die Literatur nennt verschiedenste Gründe für das Scheitern. Sie reichen von intellektueller Unzulänglichkeit der Parlamentarier[8] über unstrukturierte Debatten und schwierige Mehrheitsverhältnisse,[9] Finanznot,[10] Opposition gegen die Säkularisierungstendenzen des ursprünglichen Gesetzesentwurfs[11] und die allgemein schwierige Situation aufgrund des Krieges in einigen Teilen des helvetischen Territoriums[12] bis hin zur Vorahnung des Senats auf den bei der Verwerfung des Gesetzesentwurfs bevorstehenden Staatsstreichs.[13]

 

Der Gesetzesentwurf als Konzept für die Erziehungsräte in der Praxis

Die Reaktion der Exekutive auf diesen parlamentarischen Leerlauf wird in der Literatur unterschiedlich dargestellt. Während Luginbühl behauptet, das Direktorium habe seinen Gesetzesentwurf als Provisorium in Kraft gesetzt, geht Bütikofer davon aus, dass das Parlament dem Direktorium dieses eigenmächtige Handeln untersagt hat.[14] Gesichert erscheint dagegen eine informellere Wirkung des Gesetzesentwurfs: Im Januar 1799 wurden allen Erziehungsräten und Inspektoren auf Grundlage dieses Entwurfs Instruktionen versandt, welchen der Gesetzesentwurf angehängt war.[15] Dass die Bekanntheit des Gesetzesentwurfs bei den Erziehungsräten die Schulpolitik in den Kantonen beeinflusste, lässt sich nachweisen.[16] Faktisch hat der Gesetzesentwurf gewirkt, als wäre er verabschiedet worden, weil er den Erziehungsräten praktische Handlungsanweisungen und ein Konzept für ihre Arbeit an die  Hand gab.

 

Simon Seiler, Lorenz Theilkäs

 


[1]  Luginbühl, Rudolf, Ph. Alb. Stapfer, helvetischer Minister der Künste und Wissenschaften (1776-1840). Ein Lebens- und Kulturbild, Basel 1902, S. 526.

[2]  Ebd., S. 92.

[3]  Ebd., S. 95.

[4]  Bütikofer, Anna, Staat und Wissen. Ursprünge des modernen schweizerischen Bildungssystems im Diskurs der Helvetischen Republik (Prisma 1), Bern 2006, S. 59.

[5]  Ebd., S. 58.

[6]  Böning, Holger, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798-1803) – die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie, Zürich 1998,  S. 226.

[7]  Vgl. Luginbühl, Stapfer (wie Anm. 1), S. 91, 97, 107, 112, 114f; Bütikofer, Staat (wie Anm. 4), S. 62–64.

[8]  Bossard, Carl, Bildungs- und Schulgeschichte von Stadt und Land Zug. Eine kulturgeschichtliche Darstellung der zugerischen Schulverhältnisse im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne (Beiträge zur Zuger Geschichte 4), Zug 1984, S. 164; Rohr, Adolf, Philipp Albert Stapfer. Minister der Helvetischen Republik und Gesandter der Schweiz in Paris 1798-1803 (Beiträge zur Aargauer Geschichte 13), Baden 2005, S. 63.

[9]  Bütikofer, Staat (wie Anm. 4), S. 63.

[10] Bossard, Schulgeschichte (wie Anm. 8), S. 163.

[11] Bütikofer, Staat (wie Anm. 4), S. 59, vgl. dort auch Anm. 65.

[12]Rohr, Adolf, Philipp Albert Stapfer. Minister der Helvetischen Republik und Gesandter der Schweiz in Paris 1798-1803 (Beiträge zur Aargauer Geschichte 13), Baden 2005, S. 63.

[13] Luginbühl, Stapfer (wie Anm. 1), S. 115.

[14] Luginbühl, Stapfer (wie Anm. 1), S. 97; Bütikofer, Staat (wie Anm. 4), S. 62.

[15] Luginbühl, Stapfer (wie Anm. 1), S. 108.

[16] Vgl. Landolt, Hermann, Die Schule der Helvetik im Kanton Linth 1798-1803 und ihre Grundlagen im 18. Jahrhundert (Zürcher Beiträge zur Pädagogik 12), Zürich 1973, S. 98–107.